Berlin–Dingle–Avranches 2017 – Ramsey–Fyfield, Samstag 3. Juni
in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Ramsey–Fyfield, Samstag 3. Juni
Reisen, Radreisen
-16:40-
Weiterhin auf der Capitals Route - part United Kingdom (England 2), vor der Brücke über den Fluss Chelmer, kurz vor „Chelmer Village“.
Noch knapp acht Kilometer bis nach Chelmsford und die Luft wird wärmer und schwüler. Von Osten her führt die Strecke auf größtenteils angenehmen Wegen in die Stadt Chelmsford hinein, hoffe das jetzt bald der Campingplatz auftaucht, doch laut GPS sind es immer noch vier Kilometer. Nach der Durchquerung eines erfrischenden, sehr belebten, innerstädtischen Parks verändert sich das Straßenbild jedoch drastisch, wird unangenehm vorstädtisch, optimiert für motorisierten Verkehr, eine Hauptverkehrsstraße führt durchs Wohngebiet.
Treffe um 17:16 an der im 64s als Wegpunkt vermerkten Stelle ein. Aber wo ist der Campingplatz? Hier kann doch nie und nimmer ein Campingplatz sein. Ausfallstraße mit Wohnbebauung links und rechts, so weit das Auge reicht. Prüfe erneut die Karte auf dem Display des 64s, doch da steht nichts von Campingplatz, und dann dämmerts. Keine Ahnung, warum die ganze Fahrt über ein Campingplatz das Ziel zu sein schien. Hatte für Chelmsford ein B&B eingeplant und keinen Campingplatz, eben weil dort bei der Planung kein Campingplatz in der Nähe zu finden war. Das im Web recherchierte B&B scheint aber ebenfalls nicht zu existieren. Fahre die Straße ein paar Mal ein Stück weit hoch und runter, aber nirgendwo auch nur annähernd ein B&B. Frage mehrere Passanten, ob sie dieses oder ein anderes B&B oder einen Campingplatz in der Nähe kennen. Nichts.
Gut, oder eher nicht gut, bin doch schon ziemlich fertig von der heutigen Tour. Was tun? Schauen, ob sich weiter drinnen in der Stadt eine Unterkunft finden lässt? Muss. Lasse mich vom 64s zum nächst besten Hotel routen. Fehler. Grauenhafte Autostrecke ins Stadtinnere, über dicke, vom Berufsverkehr verstopfte Straßen und chaotische Kreuzungen. Fahrräder sind hier quasi unbekannt und inexistent. Bleibt keine Wahl, außer sich innerlich fluchend durch das Verkehrschaos zu beißen. Unterm Chelmsford Bahnhof drunter durch und noch ein Stück weiter. Schon fast wieder raus aus der schrecklichen Innenstadt, kommt das Hotel an einer schattenlosen Hauptstraße endlich in Sicht.
Fahre auf eine Art Vorplatz, Hof oder Parkplatz, linkerhand der Eingang zum Hotel, etwas unscheinbar. Scheint niemand da zu sein. Uff, brauche dringend eine kleine, schattige Pause, habe das Gefühl gleich zu kochen. Stelle das Fahrrad neben einem im Eingangsbereich parkenden Van ab, viel mehr Schatten ist nicht zu finden. Ein Mann der weiter hinten auf dem Hof sein Auto repariert, sieht herüber und ruft fragend, ob ich zum Hotel wolle. Nicke und gehe voller Hoffnung zu ihm. Sein Vater wäre gleich wieder da, ob ich einen Moment warten könne. Ja machbar, aber könne er denn schon sagen, ob noch ein Zimmer frei sei für eine Nacht für eine Person? Nein, aber könne schon sein, sein Vater müsse gleich wieder da sein. Gehe mit gedämpften Erwartungen zurück zum Hoteleingang, in den Schatten des davor stehenden Transporters. Kann grad nicht mehr. Schaue zum Eingang, ob sich da etwas tut, und plötzlich wird das nahezu versteckte Schild „No Vacancies“ sichtbar, schleicht sich in die Wahrnehmung. Alles klar. Hätte vielleicht unterwegs mehr trinken sollen. Das beständige Mantra dieser Reise. Reicht anscheinend aber nicht. Melde die „No Vacancies“ dem jungen, erstaunten Mann, oh, sorry for that, und er ist so freundlich und nennt ein anderes Hotel, Richtung Innenstadt, das Premier Inn, kurz vor dem Bahnhof. Ja, schon gesehen, vorhin dran vorbei gefahren, danke, und ab. Schien recht nobel und teuer beim dran vorbei fahren, aber gut, schaun wir mal. Gleiche schauerliche Strecke wieder zurück, bis kurz vor Chelmsford Station, gegenüber den Gleisanlagen.
Fahrrad am Eingang abstellen, natürlich kein Radständer weit und breit, Schloss um Unterrohr und Vorderrad sichern, und Alarmanlage aktivieren. Ist mir zu viel Bahnhof und kondensierte Innenstadt hier. Rein durch eine Schiebetür aus Glas, zusammen mit ein paar anderen jungen Leuten die soeben eintreffen, hinein in einen leeren, nichtssagenden zur Straße raumhoch verglasten Kasten. Auf der gegenüberliegenden Seite zwei Aufzüge. Entdecke das Hinweisschild „Reception“, Richtung Aufzüge zeigend. Na tolles Ambiente, am besten gleich wieder raus hier. Ab in den Aufzug und hoch.
Grinsen und witzeln. Bing. Die gut gelaunte Jugend fährt noch ein Stück weiter.
An der Rezeption wird soeben eine kleine Familie bedient, bis der Vater bedient ist. Scheint ein Problem mit der Buchung zu sein. Die am flachen, minimalistischen Tresen stehende junge Frau – Mobiliar und Architektur auf pseudonobelmoderncoolrelaxteffektiv getrimmt, aber dann doch eher billig, gewollt und nicht gekonnt – hackt auf einer Tastatur vor sich hin, währen sie konzentriert einen Bildschirm anstarrt. Zwischen Vater und Rezeption geht die Rede hin und her. Minuten vergehen. Immerhin ganz gut klimatisiert der Raum. Schaue aus der Fronverglasung, schön, direkter Blick aus dem 1. OG aufs Fahrrad. Der Aufzug öffnet sich noch ein paar Mal. Wird langsam unübersichtlich in der Rezeption. Die junge Frau jedoch scheint komplett entspannt, oder zumindest unbekümmert gegenüber der sich sammelnden Menge an Interessenten und Hotelgästen mit diesen und jenen Wünschen, ruft aber schließlich Unterstützung herbei. Ein Kollege kommt hinzu, findet anscheinend auch keine Lösung. Ja und dann reichts dem Vater, er bedankt sich harsch mit sarkastischem Unterton, schnappt sich seine verdatterte Familie und zieht unwirsch von dannen. O.k., bin der Nächste, geht schnell. Ja, sie hätten noch ein Zimmer frei für eine Nacht, allerdings ein Doppelzimmer. Kosten? Moment. Könnten sie für 110 Pfund anbieten. Ja nein, danke, hahaha. Und Tschüss. das liegt denn doch über dem geplanten Budget, beziehungsweise so oder so echt kein Interesse solche Fantasie Preise zu zahlen. Insgeheim froh, hier wieder raus zu sein.
O.k., wie weiter, die Zeit bleibt nicht stehen, genug getrödelt, doch einen Campingplatz suchen? Erst mal wieder raus aus diesem kleinstädtischen Großstadtkondensat. Wieder zurück zum inexistenten B&B, schwanger mit der Idee, einfach die Strecke von Morgen schon mal weiter zu fahren, bis sich irgendetwas ergibt. Macht aus mehreren Gründen Sinn. Fahre lieber mit dem Rad durch die Landschaft bis mir auf der Strecke eine Unterkunft unterkommt, als in einer Stadt wie dieser noch weiter zu suchen. Noch früh genug am Tag zum Weiterfahren. Die für morgen geplante Strecke ist knapp 120 km lang. Heute schon einen Teil zu fahren, heißt morgen früher in London zu sein, ein wenig mehr Zeit für die Stadt. Wiege den Gedanken noch eine Weile hin und her, im Kopf wirds immer frischer, die Idee immer angenehmer, endgültig und begeistert fällt die Entscheidung fürs Weiterfahren, für Freiheit. Kräfte kehren wieder. Durchschaue diese Mechanismen der Psyche noch nicht ganz.
Die folgenden Kilometer auf schöner Strecke, in der Abendsonne durchs Grün und an Feldern vorbei, lassen sich zwar gut fahren, sind aber touristisch tot, was nicht von Nachteil sein muss, bis auf das Finden einer Unterkunft. Zur Not bleibt immer noch wild zelten. Also weiter fahren, wird sich schon was passendes ergeben, muss, und ist ja erst knapp sieben, zehn Stunden auf Tour seit heute morgen. Hunger und Durst nehmen zu. Pfeife den letzten Müsliriegel ein, schlürfe vom Rest Wasser und schütte nen Tütchen Doppelherz Microperls hinterher. Puff, kann jetzt bis morgen durchfahren. Eigentlich machts eh Spaß und die Gegend ist auch recht hübsch, Samstag Abend Feeling, kaum jemand auf der Straße.
Schließlich nimmt die Bebauung wieder ein klein wenig zu. An der Kreuzung „Wood Lane“ Ecke „The Street“ – was für ein Name für eine Straße –, steht auf dem Bürgersteig ein Mann und schneidet Hecke. Fahre an ihm vorbei und weiter. Ne, stopp, den musst Du fragen! Na gut, wieder zurück, hin zu dem Mann und fragen. Der dreht sich um, piekst sich irgendwie in den Finger, flucht, nein sei schon o.k., kein Problem, ja, fahren sie einfach die Strecke die sie gekommen sind wieder zurück in den Ort – zeigt in die vermeintliche Fahrtrichtung –, ein bis zwei Kilometer, dann am Ende der Straße rechts in die Hauptstraße und dann käme rechterhand gleich ein Pub, der auch Zimmer vermieten würde, „The Black Bull Pub“. Bestens, danke, müsse nicht mal zurück, käme aus der anderen Richtung, passe also noch besser, führe sowieso die Strecke zum Pub, danke nochmal. Auf gehts.
Mag das. Einfach drauf los und das Gute kommt auf dich zu, letztendlich, meistens, wenn alles gut geht. Zehn Minuten später und nach insgeamt 110 Kilometern am Ziel, 19:35. Geht doch. Suche den Eingang, befinde die nächstbeste, versteckt liegende Tür für gut, gehe schwitzend und rot gebrannt durch den mit distinguiertem Publikum besetzten, schönen Pub, hinüber zur Bar, und frage nach einem Zimmer. Moment. Die Bedienung eilt in der Küche. Kurz darauf tritt die Eigentümerin an die Theke. Sie lächelt sympathisch. Eine entgegenkommende, doch verhandlungssichere Geschäftsfrau. Erinnert an meine Zahnärztin. Ein Doppelzimmer ist noch frei; zum grad noch akzeptablen Preis. Demnächst halt wieder öfter zelten. Leider keine Garage oder dergleichen zum Abstellen des Fahrrads und im Zimmer ist zu wenig Platz. Bleibts halt draußen. Die versteckt liegende Ecke hinter dem Zugang zum Flachbau mit den Zimmern, gegenüber vom Pub, scheint ein geeignetes Plätzchen. Direkt vor einer großen Regentonne.
Rad so abstellen, dass niemand aus Versehen dran stößt, Schloss um Unterrohr und Vorderrad sichern, und Alarmanlage aktivieren. Völlig überflüssig hier, aber wenn das Teil schon mal da ist, und was die Autofahrer können, das geht auch am Fahrrad.
Schleppe das Gepäck durch zwei Klapptüren und einen langen Flur ins Zimmer.
Aktuelle Zeit: 20:00 Uhr. Bis 21:00 Uhr gibts Futter, also schnell noch das vom Morgen feuchtnasse Zelt im schön warmen Zimmer aufhängen, duschen, Ausgehklamotten an und auf ins Restaurant. Das ist jetzt angenehmerweise weniger gut besucht und luftiger.
Nach kurzem Studium der Speisekarte und Ausblenden des Vegetariers, fällt die Entscheidung auf hausgemachte „Beef Lasagne“ und das erste Guinness der Reise. Das Gesicht glüht noch immer von der langen Fahrt im Sonnenschein. Entspannen.