Berlin–Dingle–Avranches 2017 – Ramsey–Fyfield, Samstag 3. Juni
in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Ramsey–Fyfield, Samstag 3. Juni
Reisen, Radreisen
-11:57-
Mittagspause an einer Wegkreuzung auf der Capitals Route – part United Kingdom (England 1), kurz hinter dem „Roman River“, zwischen „Cook’s Wood“ und „Chest Wood“. Die Sonne knallt und ein leichter Wind weht durch die warme Luft.
Zwei große, langhaarige, reitende Reiterinnen in voller Reitermontur on tour, reiten auf großen Reiterpferden gemütlich langsam des Weges, lächeln und grüßen. Etwas später – habe fast alles aufgefuttert –, fährt aus Richtung des Gatters eine untersetzte, behäbig wirkende, kurzhaarige Frau mittleren Alters auf einem relativ kleinen Fahrrad vor. Quer stehend stoppt sie ein paar Meter entfernt, bleibt jedoch im Sattel, Füße platt auf dem Boden, Blick nach vorne. Sie wirkt ein wenig außer Atem, als sie zu sprechen beginnt, scheint nur vor sich hin zu reden und guckt auch nicht herüber. Verstehe nicht wirklich was sie sagt. Schließlich fährt sie nach rechts weiter.
Spaziere um das Argos herum, verdaue, und sinniere immer noch über die mit sich selbst sprechende Frau, spaziere nochmal drumherum, gucke genauer und bleibe hinter dem Hinterrad stehen. Da stimmt doch was nicht. Das Schutzblech sitzt anscheinend außermittig. Nochmal genau schauen, nein, nicht das Schutzblech sitzt außermittig, sondern das Rücklicht am Gepäckträger. Häh? Nein, nicht das Rücklicht, sondern der ganze Gepäckträger sitzt außermittig. Aber wie das denn? Rüttel dran und glaubs nicht, die linke Seite ist komplett locker. Gehe in die Knie und kontrolliere die Befestigung im Bereich Ausfallende. Wo ist denn die Schraube hin? Ne jetzt, oder? Seit wann ist die denn weg? O.k., während hartem Anfahrens und über Holper, knarzte und knackte das Fahrrad heute etwas stärker als üblich bei heißem Wetter. Die ausgezeichnete Eigenschaft als glockenklarer Klangkörper, ist eine Eigenart dieses Rahmens. Nichts weiter dabei gedacht. Tumber Ignorant. Erstaunlicherweise hat die Befestigung rechterseits das Gewicht von etwas über 17 kg klaglos über rüttelnde Wald- und Wiesenwege getragen auf den zurück liegenden Kilometern.
Was nun? Passenderweise keine Tüte Ersatzschrauben mitgenommen. Letztes Jahr in Schottland im Gepäck gehabt, aber nicht benötigt, zumindest nicht fürs eigene Fahrrad, die Reisepartnerin war allerdings froh. Diesmal gedacht, Gewicht und Volumen sparen wo es nur geht, bleibt also zu Hause. Tolle Entscheidung. Was jetzt? Bis zum nächsten Radladen oder Tankstelle wird der Träger wohl noch halten, wenn er bis jetzt gehalten hat, aber kein schönes Gefühl, mit dem Wissen um den Mangel. Und selbst wenn, fraglich, ob die eine passend kurze Schraube hätten. Tapen bis sich was passendes findet?
Fummele grummelnd am Gepäckträger rum, als prompt die gedrungene Frau auf ihrem scheinbar kleinen Fahrrad erneut vor fährt. Sehe sie nur aus dem Augenwinkel. Sie bleibt stehen wie zuvor, spricht erneut zur Luft, steigt dann jedoch komplett ab, weit weniger behäbig als vermutet, und blickt herüber.
Any problems? Everything o.k. with you? Und wir kommen ins Gespräch. Erzähle von meinem Missgeschick und sie bietet an, ein paar Schrauben von zu Hause zu holen, ich solle nur kurz hier warten. Kann das natürlich nicht annehmen. Wenn sie keine passende Schraube habe, sei sie umsonst hin und her gefahren. Denke dabei auch, wer weiß wie weit weg sie wohnt und wie lange sie benötigt für die ganze Strecke. Würde ungern eine halbe Stunde oder länger warten. Nein, nein, sie wohne gleich in der Nähe, nicht weit weg, würde nicht sehr lange dauern, würde bestimmt eine passende Schraube dabei sein. Bin inzwischen aber schon auf der Suche nach einer entbehrlichen Schraube am eigenen Rad. Die abgedeckten Bremssockel sehen gut aus. Kommentiere mein Tun währenddessen der Frau gegenüber und sie bringt ihre eigenen Ideen und Kommentare ein, immer wieder mit dem Angebot verbunden, doch schnell nach Hause zu fahren und mit ein paar Schrauben zurück zu kommen, kein Umstand, mache sie gerne. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, sie zu begleiten. Die Schraube vom Sockel passt natürlich nicht; gleich beim Herausschrauben erkannt.
You can try one from my bike? Kann so viel Hilfsbereitschaft kaum fassen und klares Denken fällt immer schwerer. Lehne erst ab, das ginge doch nicht, etc.. Aber sie ist schon am Suchen und meint, die Schrauben der Trinkflaschenhalterung würde sie aktuell nicht benötigen, da sie noch nicht dazu gekommen sei diese zu anzubringen, das Fahrrad sei noch neu. Nach ein wenig hin und her – offenes Gewinde, eindringendes Wasser, das könne sie zu Hause doch aber gleich wieder in Ordnung bringen, Ersatzschraube rein drehen, kein Problem – ist alles gesagt. Schraube die Schraube samt Unterlegscheibe heraus und gebe sie ihr zum halten. Schwups, bückt sie sich auf der Suche nach der Unterlegscheibe, nein oh nein, wie habe ihr das nur passieren können, und sucht im wild wucherndem Gras. Suche ebenfalls, aber nichts mehr zu machen. Sei ihr sehr unangenehm, kann sie beruhigen, nicht nur ihr, sei quasi Schuld am Verlust ihrer Unterlegscheibe. Schräge Situation, ist doch nur eine simple Unterlegscheibe. Dennoch sind wir beide sehr bekümmert. Ihre Schraube passt zwar ins Gewinde, ist aber zu lang, wäre wahrscheinlich auch mit Scheibe zu lang. Warum zu lang? Weil unten am Rahmen die Gewindebohrung für den Gepäckträger auf ihrer Innenseite vom verschiebbaren Ausfallende abgedeckt ist. Nicht ganz optimal gelöst vom Herrn Konstrukteur.
Langsam klärt sich der Kopf. Trinkflaschenhalterung. Rahmenschrauben. Am Argos sind die Bremskabel doch mit diesen kleinen Schraubschellen befestigt. Und tatsächlich, die vom Oberrohr passt nahezu optimal und scheint nur wenig Druck auf das Ausfallende auszuüben. Der Schraubenkopf hat allerdings eine andere, linsenförmige und kleinere Aufnahme als die Originalschraube. Nehme an, auf Grund geringerer Belastbarkeit. Wird sich herausstellen. Ihre Schraube findet nun doch noch Verwendung und hält das Bremskabel am Rahmen.
Sie fragt, wohin ich denn jetzt weiter führe. Ach, schön, da würden wir noch ein Stück gemeinsam fahren können, bis zur Weggabelung kurz vor ihrem Haus, müsse in meiner Richtung liegen, auf der Strecke nach Chelmsford. Ja, gerne, Moment bitte. Schaue schnell, ob der geplante Track tatsächlich in ihre Richtung verläuft. Scheint erst nicht so. Aber doch, der könne nur dort lang verlaufen, das sei der Weg, der auf die Straße nach Chelmsford führe, for sure. Moment bitte. Die beiden möglichen Wege liegen auf der Karte so dicht beieinander, dass nicht zuverlässig zu erkennen ist, wo der Track entlang führt. Schiebe das Rad ein Stück in Richtung des anderen Weges, bis sich was tut im Display des 64s, und ja, o.k., doch, alles prima, müsse da auch lang, und wir fahren los.
Unterwegs stellt sich heraus, dass sie mit Motorunterstützung fährt. Eine kleine Steigung packt sie wesentlich entspannter und schneller, runter jedoch ist sie langsamer. Muss bremsen, um Schritt zu halten. Das Fahrrad sei ganz neu, sie habe einen Unfall gehabt, und trage jetzt eine Prothese, deshalb der Motor und die spezielle Geometrie des Rades.
Nach etwa einer viertel Stunde erreichen wir die Kreuzung bei „Birch Green“. Sie müsse nach rechts weiter, also in die andere Richtung. Wir stehen dort einen Moment, schweigend, an der Kreuzung, in der gleißenden Sonne. Das Ereignis hat eine poetische Stimmung hinterlassen. John Crowley, Little Big. Verabschiede mich dankend mit den Worten „You must be an angel“. Sie antwortet ausweichend, oh nein, man nenne sie vieles, aber sicher nicht einen Engel.