Berlin–Dingle–Avranches 2017
Cymer–Carmarthen, Freitag 9. Juni
in: Berlin–Dingle–Avranches 2017
Cymer–Carmarthen, Freitag 9. Juni
Reisen, Radreisen
-9:53-
National Cycle Network: Route 887, östlich von Rock und dem Fluss Afan, ein paar Kilometer vor Port Talbot.
Langes Frühstück, langes Packen, Abfahrt soweit wie möglich hinaus zögern, in Hoffnung auf später trockeneres Wetter. Schöner Abschied dann, tatsächlich ohne Regen, und ermutigendes Gespräch mit der Herbergsfrau. Sie kommt mit nach draußen und versucht Sorgen bezüglich kommender Steigungsstrecken zu entkräften, würde das gestern doch auch bis hierher geschafft haben, prognostiziert gutes Wetter und empfiehlt den Fahrradweg entlang des Flusses. Den hatte BRouter ebenfalls raus gepickt. Kann eigentlich nichts mehr schief gehen, bei so viel Zuspruch.
Sehe später auf der Karte einen weiter abseits gelegenen, auf der anderen Seite des Flusses entlang führenden Track, vielleicht meinte sie auch diesen, schätze aber, der wäre mit dem Rad schwieriger zu befahren.
Ist schon o.k. hier. Der „Afan Valley Cycle Track“ verläuft zwar streckenweise in nur 20 Metern Abstand zur Hauptverkehrsstraße, aber auf Grund des dichten Grüns zwischen Track und Straße und ohne den stressenden motorisierten Verkehr direkt vor der Nase, ist das Radeln auf dem Track ganz angenehm. Allein der schon wieder düstere, von Regen kündende Wolkenbehang stimmt ein wenig melancholisch. Aber da kann der Weg nichts dafür.
Nach ein paar Kilometern, kurz vor Pontrhydryfen – wundervoll diese Namen, kann das nicht oft genug betonen –, endet der Track scheinbar abrupt und ohne Ausweg, im Gegensatz zur Darstellung auf der Karte. Eine Wand aus Grün zieht sich weiter vorne quer über den Asphalt, als würde er dort seit jeher enden. Kann wohl nicht sein. Fahre ein Stück weiter der Barriere entgegen, und glücklicherweise zweigt links doch noch ein Weg ab. Blick auf die Karte: gibts dort nicht, hoffentlich eine Umfahrung, also dort entlang, was auch sonst. Bald wird rechter Hand zwischen dem trennenden Baumwerk hindurch der Cycle Track wieder sichtbar, auf weiter Strecke komplett unter Wasser. Mit dem Fahrrad wahrscheinlich kein Problem, zu Fuß schon eher, sofern nicht mit Gummistiefeln unterwegs. Nach knapp einem Dreiviertel Kilometer führt der Weg auf den Cycle Track zurück.
Vor „Port Talbot“, so um 10 Uhr, hoppelt das Rad über einen etwas rumpeligeren Pfad, und bald danach fühlt sich das Fahren an wie auf einer wabbeligen Gummimatte. Platten, hinten. Sofort wird klar, wo der seine Ursache haben muss. Suche fluchend nach einem geeigneten Platz, um den Schlauch zu flicken oder zu wechseln, möglichst ohne im gerade wieder aufkommenden Regen noch mehr Freude zu haben. Eigentlich kein Problem, erster Platten nach rund 1400 Kilometern, bin dennoch stinke sauer und missgelaunt, ob der für den Glasscherbenteppich in der Unterführung bei Newport verantwortlichen Idioten und meiner Unachtsamkeit. Verdränge die Vorstellung, welchen Effekt so eine Panne gestern bei der Abfahrt gehabt hätte. Zum Glück liegt direkt in der Nähe eine Hochstraße und darunter ein wunderbar betoniertes Rechteck. Mache dort gemütlich halt und versuche die Situation schön zu reden. Sehe etwas weiter weg unter der Hochstraße einen Kleinlaster, regungslos. Noch mehr Nerverei. Wird hoffentlich nicht hier entlang müssen.
Entscheide spontan, die Dichtmilch zu testen. Sollte am schnellsten gelingen, vor allem ohne Radausbau. Fläschchen aus dem Werkzeugpack friemeln, Kappe abschrauben, Siegel von der Öffnung entfernen. Aber halt, vorher noch gut schütteln, liegt ja schon ein Jahr herum, das Fläschchen. Nur zweimal heftiges Schlackern brauchts und das weiße Zeuchs landet im Gesicht, im rechten Augenwinkel, auf der Regenjacke – wie passend – und rundherum. Ja welcher Idiot schraubt auch vor dem Schütteln die Kappe ab und entsichert dadurch das Siegel. Fluche noch heftiger, bis schließlich abrupt aller Ärger einer heiteren Gelassenheit weicht. Zum Glück ist niemand vor Ort und filmt den ganzen Slapstick. Krame halb blind die Haushaltstücherrolle aus einer der Taschen und versuche so gut als möglich Klamotten und Gesicht von der Dichtmilch zu befreien. Klappt erstaunlich gut und rückstandsfrei. Schraube die Kappe von der Trinklasche und spüle das Auge aus. Könnte die Augenwäsche aus dem Erste Hilfe Pack fummeln, habe aber keinen Bock drauf. Muss reichen. Brennt auch nichts am Auge. Die Dichtmilch scheint eh nicht mehr funktionsfähig, dünn wie Wasser. Ein Jahr Lagerung nach dem Kauf, war vielleicht doch zu viel. So schnell endet „am schnellsten“.
Versuche, im Kampf gegen den Wind, den Haufen benutzter Tücher unter dem Gepäckhaufen zu sichern. Die Flasche ist noch halbvoll und irrerweise – jetzt erst recht –, gehe ich daran weiter zu testen. AV Ventil aus der Fassung und Dosierkappe auf das Fläschchen schrauben und Dichtmilch einfüllen. Gelingt einigermaßen und ohne weiteres Kleckern. Ventil wieder rein und Reifen versuchsweise aufpumpen. Nach 60 Stößen mit der Minipumpe fühlt der sich immer noch an wie zuvor. Wird wohl nix. Demontage lässt sich nicht umgehen.
O.k., was jetzt zuerst. Ätzend, natürlich das Gepäck ab und dann Fahrrad auf Sattel und Lenker stellen. Die ganze Aktion wieder mit Flüchen begleitet. Der Wind nimmt zu, muss aufpassen, dass dieses oder jenes nicht weg gepustet wird. Arbeitshandschuhe an und weiter im Text. Auf eine zufällige Verletzung kann ich gut verzichten. Zuerst die externe Ansteuerung der Rohloff abmontieren, dann den Kettenspanner. Einprägen der Stellung des Spanners, Entspannen der Feder und das ganze Teil abschrauben. Halt, nein, stopp. Zum Glück hängt die Schraube noch ein, zwei Umdrehungen im Gewinde, zum Glück noch dran gedacht: an das Unterlegscheibenpotpourri. Wie am besten die mannigfaltige Konfiguration der Unterlegscheiben des Rohloff DH Spanners sichern, zumal bei diesem Wind? Geniale Idee, bin begeistert, mit Panzertape natürlich. Und da purzelt er schon wunderbar gesichert mit Schraube und Scheiben die Kette hinunter. Pitlock abschrauben, und Rad unter weiterem Fluchen aus den verschiebbaren Ausfallenden ruckeln. Kette vom Ritzel abheben. Am befreiten Rad mit zwei Reifenhebern vorsichtig den Reifen an einer Stelle über die Felge hebeln und den Rest von Hand heraus schlupfen.
Reifen inspizieren. Die im Mantel steckende Glasscherbe ist schnell gefunden und entfernt. So um die drei Millimeter dürften eingeschnitten sein. Dann der Schlauch. Kann immer noch nicht glauben, dass die Milch versagt hat und versuche unsinnigerweise den freigelegten Schlauch erneut aufzupumpen. Na klar, Luft und Milch spritzen freudig aus dem Loch. Immerhin, ein wenig Luft hält der Schlauch. O.k., doch flicken. Kurzer Druck auf den Nippel im Ventil, um die Restluft rauszulassen. Super Idee, prompt milcht auch das Ventil voll. Schlauch ruiniert. Flicken hat sich damit ebenfalls erledigt. Bei der Suppe im Schlauch und im Ventil, kein Bedarf an weiterem Siff. Schlauch vorsichtig zusammenfalten und in Plastiktüte verstauen, bis zum nächsten Mülleimer oder dergleichen. Im Nachhinein ist klar, dass selbst bei erfolgreicher Verarbeitung, ein zwei Millimeter Schnitt im Schlauch eventuell zu viel für die Milch sein könnte.
Ersatzschlauch aus einer der Seitentaschen kramen, auf Felge drauf schlingen, und Reifen wieder aufziehen. Hätte das gleich machen sollen, den kaputten Schlauch später bei besserer Gelegenheit flicken, am Ende der Tagestour oder so. Sehe aus dem Augenwinkel, wie sich auf dem scheinbaren Trampelpfad unter der Hochstraße der Kleinlaster nähert. Boah, muss der hier doch lang? Ein paar Meter vor dem Betonplateau bleibt er stehen. Mache einfach mal weiter, die werden sich schon melden, wenn sie durch wollen. Das Rad sitzt inzwischen wieder festgeschraubt im Ausfallende und als nächstes wäre der Kettenspanner dran, fuck, wie oft ist mir das schon passiert, vergessen die Kette übers Ritzel zu legen. Demontiere das Rad erneut, aber nur so weit, dass sich die Kette grad so auf das Ritzel heben lässt.
Fernlicht flammt auf. O.k., Sichtkontakt zu den Wageninsassen. Gestikuliere, werde gleich Platz machen, räume hektisch Gepäck, Müll und Fahrrad mit lose eingehangenem Rad bei Seite. Langsam nähert sich der Wagen, stoppt direkt auf Augenhöhe und die Fensterscheibe geht runter. Freundlich, entspannt, und sehr interessiert, erkundigt sich der Fahrer wo ich her käme, wo ich hin wolle, was ich hier mache, und so weiter. Versuche so intelligent wie möglich zu antworten. Er fände das cool, so eine Tour würde er auch gerne unternehmen, wünscht schließlich alles Gute für die Fahrt, vor allem keine weiteren Pannen, und dauerhaft sonniges Wetter – Optimist oder Zyniker – und dann verabschieden wir uns lächelnd. Nette, entspannte Menschen hats hier.
Zurück zum Fahrrad. Die Montage von Hinterrad, Kettenspanner und Schaltbox gehen glücklicherweise ohne weitere Probleme von der Hand. Das anschließende Aufpumpen des Reifens kostet nahezu den Rest verbliebener Kraft, physisch und psychisch. Nach 250 Stößen aus der Minipumpe scheint der Reifen per Hand gefühlt ausreichend prall. Besser nochmal mit dem Luftdruckmesser testen. Doch leider verweigert der auch nach mehrmaligem Drücken auf den Einschaltknopf seinen Dienst. Hoffentlich nur eine leere Batterie. In den Niederlanden hatte das Teil noch funktioniert. Egal. Zurück mit dem Gepäck aufs Rad, den Müll in einem der Pausenmüllbeutel verstauen, und los gehts. Das Fahrgefühl ist allerdings nicht optimal.
Sehe schräg links auf der anderen Seite der Straße eine Tankstelle. So ein Glück aber auch. Oder auch nicht. Das Gerät, das Luft gegen Bezahlung offeriert, wirkt kompliziert – bin vielleicht aber auch nur wieder unterzuckert, wie anscheinend so oft –, auf der Skala eine Angabe in „lb“, das werden wohl „psi“ sein. Stelle sicherheitshalber nur auf 55 lb ein, nicht das der Schlauch platzt auf Grund eines ungenauen oder defekten Druckluftgerätes oder eines Bedienfehlers. Scheint, für einen bestimmten Geldbetrag ist eine festgelegte Zeit lang beliebiges Rumpumpen möglich. Ein Pfund ist der Spaß wert. Angeblich hört das Teil automatisch auf Luft zuzuführen, sobald ein vorher eingestellter Druck erreicht ist. Klappt aber nicht wirklich. Zisch, piep, piep, blink, blink, zisch …. Gebe schließlich auf, als das Display nach mehreren Ansätzen endlich knapp 53 lb zeigt. Rauf aufs Rad und weiter fahren.
Doch das Fahren fühlt sich immer noch nicht richtig an. Was tun? Vergleich mit dem Vorderrad, da waren ursprünglich ca. 0,5 Bar weniger als hinten. Also ein paar Stöße nachpumpen, kann nicht schaden, und merken wie schwergängig sich der Kolben rein drücken lässt. Hinten bis zum selben Kraftaufwand pumpen, pumpen, pumpen und noch ein paar Stöße mehr pumpen. Muss an die Shadoks denken. Genug. Rauf aufs Rad, und jetzt fährt sich das Teil wieder wie gewohnt, vielleicht sogar besser als zuvor. Zu spät blitzt der Gedanke auf, an der Tankstelle nach einer neuen Batterie für das Messgerät Ausschau zu halten. Habe aber sowieso keinen Nerv auf weitere Verzögerung. Muss reichen bis Dingle.
Nach über anderthalb Stunden endlich wieder auf der Spur – die wenig später an einen irren Verkehrsknoten zwischen „Aberafan Shopping Centre“ und M4 führt. Bin beinahe am Verzweifeln. Roundabout mit sieben andockenden Straßen, weiteren Wegen und Pfaden, drumherum, nebendran und oben drüber. Die dem Track folgende Straße irgendwie kreuz oder quer, jedenfalls nicht eindeutig zu erkennen, anscheinend vom Radweg weg führend, was zuerst nicht klar ist. Kopf versagt heute nachhaltig. Eine viertel Stunde später, gefühlt alle Auf- und Abfahrten mindestens einmal ausprobiert, endlich auf dem korrekten Abzweig. Nehme die folgenden Kilometer bis nach Swansea kaum wahr. Auf halber Strecke geht dann plötzlich auch noch das 64s aus. Lässt sich aber zum Glück gleich wieder starten.